Liebe

Michael Haneke (2012): „Liebe“

Inhalt des Films:
Michael Haneke zeigt in seinem Film die Liebe und innige Verbundenheit eines Ehepaares, zweier pensionierter Musikprofessoren, eindrucksvoll gespielt von Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant, in deren gewohntes und ruhiges Leben die Frau plötzlich erkrankt und nach einem miss-lungenen chirurgischen Routineeingriff pflegebedürftig wird. Der quasi als Kammerspiel inszenierte Film mit großer Suggestivkraft für den Zuschauer spielt fast überwiegend in den Räumen einer groß-bürgerlichen Pariser Wohnung und zeigt in ungeschminkter Unmittelbarkeit, mit großer Einfühlsam-keit, Nähe zu den Protagonisten und minimalistischen filmischen Mitteln, wie das alternde Ehepaar bewusst auf sich und ihre innere Verbundenheit zurückgezogen mit der Pflegebedürftigkeit der Ehefrau leben, wohlwissend, was und wie das Ende sein wird. Der Film ist mehrfach ausgezeichnet, erhielt u.a. 2012 die Goldene Palme für den besten Film in Cannes und 2013 den Oscar und den Golden Globe awards für den besten fremdländischen Film.

Psychoanalytische Filmbetrachtung
im CinéMayence

Prolog:

Ich weiß nicht, wie es Ihnen jetzt geht. Aber als ich zum ersten Mal den Film sah dachte ich, wann ist es endlich vorbei.

Der Film konfrontiert uns in gnadenloser Offenheit ohne jeglichen Voyeurismus mit Themen, die wir am liebsten verdrängen möchten. An manchen Momenten möchten wir einfach nicht teilnehmen, z.B. die große Beschämung der Musikprofessorin Anna die, die vermutlich aufgrund eines weiteren Schlaganfalls das Wasser nicht mehr halten und ins Bett urinieren musste später gewickelt wird und damit den Rest ihrer Würde verliert und andere Beispiele. Durch die filmischen Mittel der ruhigen und „unaufgeregten“ Kameraführung nehmen wir intim am Leben der Beiden in ihrer Pariser Altstadtwohnung teil.

Es ist vielleicht wenig bekannt, dass die Suizidraten im Alter sehr hoch sind. Bei den über 85jährigen Männern liegen sie 5x und bei den gleichaltrigen Frauen 4x höher als der Durchschnitt in der Bevölkerung.

Der gemeinsame Innenraum des Paares

Die Individualität des Paares erfahren wir ausschließlich in der Altstadtwohnung. Nur dort sind sie in ihrem vertrauten Raum, einem Raum, der auch uns im Verlauf des Filmes immer vertrauter wird. Bis auf das Kabinett, in dem Georges nach der Tötung der Frau schläft, sind uns alle Räumlichkeiten sehr vertraut. Und im Kabinett sind auch die Erinnerungen des Paares in Form von Fotoalben aufbewahrt. Dies ist neben dem Esszimmer, dass das Paar nicht benutzt, der einzige Ort in der Wohnung, in die wir nur von außen ein wenig hinein schauen durften. Einerseits scheint es das Refugium des Mannes zu sein. Andererseits diente das Kabinett meist nahe bei der Küche in bürgerlichen und großbürgerlichen Pariser Wohnungen, als Schlafplatz des Hausgesindes. Und letztlich wurde Georges mit der Erkrankung von Anna ja in gewisser Weise zum Gesinde, neben aller Liebe, Warmherzigkeit und Fürsorge. Und es gibt Hinweise, dass diese implizite Schieflage zwischen Georges und Anna schon länger die partnerschaftliche Beziehung prägte, aber dazu später.

Außerhalb ihrer Wohnung, besonders beim Klavierkonzert, bei der anschließenden Zusammenkunft mit dem Pianisten und der Busfahrt sind sie einer von vielen. In dem Blick von der Bühne ins Publikum sucht man förmlich nach den Akteuren, um die es gehen könnte.

Nur in der Wohnung, angefüllt mit den Erinnerungen eines langen und erfüllten Lebens werden sie in ihrer Eigenständigkeit sichtbar und in ihrer gemeinsamen Choreographie erleb- und fühlbar. Und der versuchte (unprofessionelle) Einbruch in die Wohnung, den das Paar nach der Rückkehr vom Konzert bemerkt, nimmt symbolisch vorweg, was am folgenden Tag über das Paar einbrechen wird. Aber nichts bleibt wie es ist. Anfangs erscheint die Wohnung mit dem Fischgrätenparkett, den Landschaftsbildern bürgerlich schön, immer mehr im Verlauf des Films bemerkt man, wie verwohnt diese ist, wie lange sie schon nicht mehr renoviert wurde, eine Wohnung von alten Menschen eben.

Und über die einbrechende Erkrankung von Anna findet das Leben nunmehr fast vollständig in der Wohnung statt. Und, wie Georges im Zusammenhang mit der Erkrankung formuliert: „nichts von alledem ist es wert, vorgezeigt zu werden“. Das Paar isoliert sich.

Dem Dilettantischen des versuchten Einbruchs in die Wohnung mit einem Schraubenzieher und der „missglückten“ Operation setzt von nun an Georges mit Bewunderung des Hausmeisterpaares eine professionelle, perfektionistische und aufopferungsvolle Pflege der Ehefrau entgegen, die in ihrer Selbstlosigkeit narzisstische Größe offenbart. Während die Zuschauer an allem teilnehmen „müssen“, wird Annas Erkrankung – nicht zu übersehen, weil sie im Rollstuhl sitzt – z.B. anlässlich des Besuchs von Alexandre, einem ehemaligen Schüler zum Tabu erklärt. Bezeichnenderweise bittet Anna Alexandre nochmals die Bagatelle von Beethoven zu spielen, um auch an alte Zeiten anknüpfen zu können. Alles ist eine Bagatelle, eine Kleinigkeit und bis zum zweiten Schlaganfall dominiert das Bemühen um scheinbare Normalität aber letztlich auch um Verleugnung. So sagt Georges beim Besuch der Tochter vor der Heimkehr von Anna: „ehrlich gesagt ist das alles aufregend“. Es ist aufregend seine schwer kranke Frau zu pflegen, obgleich Georges selbst nicht gut zu Fuß ist?

Anna antwortet später auf das fürsorgliche Bemühen von Georg: „Du musst mir nicht ständig das Händchen halten“ und „ich bin doch kein Krüppel“. Zugleich schickt sie ihn aus dem Zimmer, damit er nicht ihre Mühe sieht, die sie, halbseitig gelähmt mit dem Aufschlagen und Lesen eines Buches hat. Wir bleiben als Zuschauer im Raum!

Für das Paar, beide pensionierte Musikprofessoren haben mit der Annas Erkrankung die Musik und auch das Klavierspiel als drittes Objekt, auf das beide ausgerichtet waren, vielleicht ausgerichtet sein mussten, an Bedeutung verloren. Nun sind sie verstärkt auf sich selbst und die quälende Realität zurückgeworfen, möglicherweise aber auch auf eine verborgene partnerschaftliche Dynamik, die bislang gut mit ihrem gemeinsamen Fokus auf die Musik sublimiert werden konnte.

Die bekannten Objekte der Außenwelt, wie die Tochter und Alexandre, der Schüler sind mit sich selbst beschäftigt. Andere, wie das Hausmeisterehepaar und auch die später gekündigte Pflegerin sehen in dem Paar primär eine anzuzapfende Geldquelle. Beides zusammen mit dem drohenden und tatsächlich stattgefundenen Verlust der Würde verstärkt die durchaus gewollte Isolierung des Paares. Es mutet fast schon so an, wie wenn in Naturvölker die Alten und Sterbenden sich von der Gemeinschaft entfernen, um dieser nicht zur Last zu fallen, vielleicht aber auch, um sich noch ein Stück Würde erhalten zu können. Nur Regisseur Haneke erspart uns die Teilnahme hier nicht.

Der Umgang mit der Hilflosigkeit

Der Anfang des Films offenbart uns bereits das Ende, nämlich dass Anna sterben wird. Wir als Zuschauer gehen mit diesem Wissen in den Film, sind aber sozusagen unwissend, wie es dazu kommen wird und müssen uns jeweils ähnlich wie Georges von den Entwicklungen mitnehmen, uns überraschen lassen. Georges formuliert die Dynamik im Gespräch mit der Tochter so: „Es wird weiter gehen, wie es immer weiter gegangen ist. Es wird immer schlechter gehen und irgendwann ist es aus.“ Es gibt die Gewissheit des Endes, aber eben auch die unerträgliche Ungewissheit des Zeitpunktes, des „irgendwann“, wie Georges es formuliert. Diese Gleichzeitigkeit von Wissen und Nicht-Wissen löst Ohnmacht und Hilflosigkeit aus, was sehr früh für Anna und dann letztlich auch für Georges nicht mehr aushaltbar ist und sich in der von ihr gewünschten Tötung entlädt.

„Verzeih mir, ich war zu langsam“ sagt Anna, als sie am Boden des geöffneten Fenster sitzt und moniert, dass Georges ihrer Meinung nach zu früh von einer Beerdigung zurück kam. Es war wohl ein missglückter Selbstmordversuch. Sie will einfach nicht mehr leben, weil es keinen Grund gibt. „Warum soll ich uns das antun, Dir und mir?“. Über den Prozess der Erkrankung verändert sich die partnerschaftliche Choreographie Schritt für Schritt. Obgleich beide Musikprofessoren, stand er beruflich wohl in ihrem Schatten, z.B. wenn der künstlerische Erfolg eines Schülers auch auf sie abfärbte und sie zugleich mit einer gönnerhaften und vordergründigen Bescheidenheit das eigene Zutun dem Fleiß und dem Talent des Schülers unter ordnete. Aber eigentlich sieht sie den Schüler als Selbstobjekt und seinen Erfolg als Resultat ihrer Bemühungen. Diese auf ein äußeres Objekt gerichtete narzisstische Perspektive bricht mit der Erkrankung weg, zumal der Schüler Alexandre beim Höflichkeitsbesuch ihr nicht wirklich Reverenz erweist. Er hat es schlichtweg vergessen ihr eine CD mitzubringen. Diese Kränkung wird nur notdürftig dadurch repariert, da sie ihn mit dem Kauf der CD unterstützen wollen, „und wenn es nur 20€ sind.“

Der Selbstmordversuch am Fenster, der mehrfache verzweifelte Versuch das Essen zu verweigern sind hilflose Versuche Annas narzisstisch über sich, den Körper und über das Leben selbst und ohne Georges bestimmen zu wollen. Dieser andererseits bemächtigt sich bei aller und mit aller Liebe und Fürsorglichkeit seiner Frau. Er bekommt die Oberhand, entscheidet genau besehen letztlich über Leben und Tod. Für Anna ist diese Hilflosigkeit so unerträglich, dass sie den Tod vorziehen möchte. Und für Georges ist es unerträglich, dass sie für sich diese Entscheidung fällen möchte und schlägt sie im Affekt ins Gesicht, als sie wieder einmal versucht, das Essen und Trinken zu verweigern und es ausspuckt.

Jeder bleibt bei seiner narzisstischen Perspektive und will diese nicht durch die Perspektive des Anderen kontaminieren.

Kurz nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus und in dem gemeinsamen Bemühen um Normalität am Küchentisch gibt es eine Szene, in der Georges eine für ihn peinliche Geschichte aus der Kindheit erzählt, in der er beim Reden über einen Film hat weinen müssen. Das Reden über den Film hätte noch mehr Gefühle mobilisiert, als der Film selbst. Sie findet das „hübsch“, fragt sich, warum er ihr die Geschichte noch nie erzählt habe, worauf er kokett antwortet, dass er noch vieles nicht erzählt habe, worauf sie fragt, ob er auf seine alten Tagen noch an seinem Image rütteln möchte. Als er dann weiter nach seinem Image fragt meint sie: „Du bist ein Monster, manchmal, aber Du bist nett“. In der scherzenden und sicher auch zugewandt-stichelenden Art des Umgangs miteinander ist die Wahrheit gut verpackt. Denn die Szene zeigt auch, dass wenn über Gefühle gesprochen würde, es zu überaus peinlichen Momenten kommen könnte, auch zwischen den beiden.

Obgleich der Film Liebe heißt, gibt es m.E. nur eine Stelle, in dem das Wort ausgesprochen wird. Jedoch weder von Georges noch von Anna, sondern von der Tochter. Denn wenn diese als Kind die Eltern miteinander schlafen hört, konnte sie sich sicher, dass die Eltern sich lieben und alles gut bleiben wird.

Georges ist kein nettes Monster, sondern er ist nett, bemüht, liebevoll und fürsorglich zu sein, aber letztlich aus Annas Perspektive auch ein Monster.

Die Liebe und das verborgene Destruktive

„Entgegen gängiger Klischees ist festzustellen, dass die reine Liebesheirat nicht sehr weit verbreitet ist. Nur etwa jede siebte Eheschließung folgt diesem Muster. Liebe scheint also, technisch gesprochen, eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Heirat zu sein.“ (Seiffge-Krenke & Schneider 2012, Familie – nein danke?)

Liebesheiraten bzw. die freien Partnerwahl waren in Europa erst seit dem 19. Jahrhundet möglich. Zuvor konnte man nur hoffen, dass sich durch „Zufall oder durch Gewohnheiten des Ehelebens die Liebe allmählich einstellte“ (Badinter, 1980; zitiert nach Seiffge-Krenke & Schneider 2012). Sozialwissenschaftlicher betrachten die Liebe als Moment, wenn zwei Partner das Gefühl haben, „das beste Objekt gefunden zu haben, das für sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt erschwinglich ist.“ (E. Fromm1956/2005; zitiert nach Seiffge-Krenke & Schneider 2012). Eine ernüchternde Perspektive.

Möglicherweise ist das, was bindet noch viel weit- und tiefgehender, als das, was wir landläufig unter einer romantischen Liebe subsummieren. Und zwar so weitreichend, dass häufig, wenn in einer langen Ehe ein Partner verstirbt, der Verwitwete entweder kurz hierauf erkrankt oder ebenso stirbt. Wie wenn der Eine ohne den Anderen nicht zu leben vermag. Untermauert werden solche Annahmen durch frühe tierexperimentelle Untersuchungen die zeigen, wie stark unsere biologischen, scheinbar autonomen Regulationssysteme so autonom eigentlich gar nicht sind, sondern dass wir immer wieder sehr auch auf die externe, d.h. die äußere Regulation angewiesen sind. Und dies betrifft nicht nur unsere psychische Befindlichkeit, sondern wohl auch unsere physiologischen Regulationssysteme.

Die Liebe und die Destruktivität liegen hier eng beieinander (das Monster und der nette Mann). Die Aufgaben eines Elternpaares und die Verbundenheit im Alter haben möglicherweise eine auch beruflich aufgeladene Konkurrenz und Rivalität der Musikprofessoren überdecken helfen, die jetzt über die Erkrankung wieder aufbricht. Vielleicht auch in einen archaischen Triumpf mündet, der über die liebevolle und fürsorgliche Zuwendung per Verkehrung ins Gegenteil abgewehrt wird. Nämlich der archaische Triumpf, wer als Erster ins Gras beißt, wer krank wird und stirbt und wer den Anderen tot pflegt usw.

Nach dem Besuch der Tochter, die sich vergewissert, dass Anna noch lebt, klart diese einmalig nochmals auf. Beide erinnern sich an das erste Treffen, an dem Georges so verkrampft so „seriös“ gewesen war. Sie sind damit symbolisch am Anfang der Beziehung und zugleich am Ende des gemeinsamen Weges angelangt. Denn kurz darauf, als Georges beim Rasieren ist, setzt der sprachliche Automatismus wieder ein: sie ruft: Hilfe, Hilfe. Er kommt, tröstet sie, meint, dass alles wieder gut wird und erzählt ihr eine Geschichte aus seiner Kindheit, als er mit anderen Kindern in ein Ferienlager kam und dort gezwungen wurde Dinge zu tun, die er hasste. Er erkrankte an Diphterie, kam ins Krankenhaus auf eine Isolierstation, wo er seine Mutter nur hinter der Glasscheibe sehen konnte. Daraufhin erstickt er Anna mit seinem Kopfkissen.

In seiner Vorstellung erlöst er sich und Anna von dem Zwang etwas zu tun, was beide sich anders vorgestellt haben. Wie sagte Anna nach dem vermuteten Selbstmordversuch am Fenster: „aber die Vorstellung und die Wirklichkeit haben wenig gemein“. Und beide haben sich das ganz anders vorstellt und die Konfrontation mit der Realität ist einfach unendlich quälend.

Georges muss sich endgültig eingestehen, dass er den Kontakt zu ihr verloren hat, gleich wie es ihm mit der Mutter im Krankenhaus erging (die Mutter war hinter einer Glasscheibe). Georges brauchte Anna auch zur eigenen narzisstischen Stabilisierung. Nun muss er sich eingestehen, dass sein eigenes narzisstischen Begehrens, Anna für sich festhalten zu wollen gescheitert ist. Er kann keinen Kontakt mehr herstellen.

Gewissermaßen in der Tötung von Anna („alles wird wieder gut“) sind beide in ihrem jeweiligen narzisstischen Begehren wieder vereint. Sie erhält den Triumpf der Wunscherfüllung dem Dahinvegetieren ein Ende zu bereiten, allerdings fast würdelos. „Aber ich will nicht mehr, nicht Deinetwegen sondern Meinetwegen.“ Er verkehrt sein narzisstisches Scheitern und sein Ohnmachtsgefühl durch den Akt der Tötung ins Gegenteil, d.h. ins Machtvolle. Diese Umkehrung konnte für Georges allerdings nur dadurch gelingen, weil es ihm mit der halluzinatorischen Wunscherfüllung möglich geworden ist, das verloren gegangene Objekt imaginär in sich neu aufzurichten. Er sieht sie Klavierspielen und sie verlässt mit ihm später die Wohnung und erinnert ihn daran, den Mantel anzuziehen, so wie sie es wohl immer gemacht hat. So gesehen kann er auf die wirkliche, auf die reale und kranke Anna verzichten, weil er Zuflucht in seiner inneren Vorstellung fern ab von der Realität gefunden hat.

Exkurs: Die Taube und das Wasser

Im Buch Mose, Kapitel 8 heißt es: „Dann ließ er eine Taube hinaus, um zu sehen, ob das Wasser auf der Erde abgenommen habe. Die Taube fand keinen Halt für ihre Füße und kehrte zu ihm in die Arche zurück, weil über der ganzen Erde noch Wasser stand. Er streckte seine Hand aus und nahm die Taube wieder zu sich in die Arche. Dann wartete er noch weitere sieben Tage und ließ wieder die Taube aus der Arche. Gegen Abend kam die Taube zu ihm zurück, und siehe da: In ihrem Schnabel hatte sie einen frischen Olivenzweig. Jetzt wusste Noah, dass nur noch wenig Wasser auf der Erde stand. Er wartete weitere sieben Tage und ließ die Taube noch einmal hinaus. Nun kehrte sie nicht mehr zu ihm zurück.“

Beide, Georges und Anna scheinen in ihrer Wohnung wie auf einer Arche zu leben.

Auch im Film taucht immer wieder das Wasser auf: Georges lässt es laufen, als Anna nicht ansprechbar ist und er ein Handtuch anfeuchtet. Er findet Anna am geöffneten Fenster bei strömendem Regen, nachdem er von einer Beerdigung zurückkommt. In einem Traum verlässt Georges die Wohnung und bemerkt, dass außerhalb der eigenen Wohnung alles am Zerfallen ist: der Aufzug ist defekt, der Hausflur verkommen und schließlich steht er mit den Füßen im Wasser und eine Hand hält ihm den Mund zu und nimmt damit vorweg, was er Anna antun wird. Und schließlich: Anna kann ihr Wasser nicht mehr halten.

Die Taube kommt zweimal in die Wohnung durch das Fenster zum Hinterhof. Beim ersten Mal vertreibt er sie wieder, bei zweiten Mal fängt er sie mit einem Tuch und streichelt sie. Anfangs ist der Zuschauer unsicher, ob er sie nicht auch wie Anna tötet. Erst als wir ihm beim weiteren Schreiben zusehen dürfen erfahren wir, dass er sie freigelassen hat. Letztlich symbolisiert auch Anna diese Taube, die er schließlich gehen lassen kann. Im übertragenen Sinne kann sie jetzt durch das geöffnete Fenster im Schlafzimmer entweichen, während ansonsten alles abgedichtet ist und, wie es in der Genesis heißt, nie mehr zu ihm zurück kehren. Das Wasser ist weg und Georges kann die Wohnung verlassen.

Fazit

Kehren wir zum Schluss nochmals an den Anfang zurück und zu meinem Gefühl, wann ist es endlich vorbei?

Hier drückt sich eben auch die ubw. Phantasie aus, dass man dem Ganzen ein Ende setzen kann und muss, weil es unerträglich ist. Ein solcher Gedanke nimmt quasi die Tötung, die dann auch erfolgt vorweg. Und manchmal ist es schlimm, wenn unsere verdrängten, verleugneten und vorbewussten Phantasien vor unseren Augen in Handlung umgesetzt werden. Das möchten wir uns weder vorstellen, noch mit ansehen müssen.

Hilfreich ist hierbei auch die gemeinsame Verstoffwechselung von Eindrücken und Gefühlen, sei es im Gespräch mit Freunden nach einem solchen Film, bei uns in der Filmarbeitsgruppe oder aber in einem Workshop mit Teilnehmern aus dem Weiterbildungsstudiengang Psychodynamische Psychotherapie der Psychosomatischen Universitätsklinik in dem wir uns gemeinsam diesen Film angeschaut hatten. Vieles aus der dortigen engagierten, lebendigen und kenntnisreichen Diskussion hat mich entweder weiterdenken lassen oder fand direkt Eingang in die Ausführungen. Mein besonderer Dank und Anerkennung gilt daher den Kolleginnen Frau Adler, Frau Arayaie-König, Frau Bartsch, Frau Gisbert-Schuppan, Frau Wolf und Frau Wunder.

Wem gehört der Tod: gehört er Anna, gehört er Georges, gehört er den Hinterbliebenen? Wer bestimmt hierüber?

Der Film endet damit, dass die Tochter wieder in die Wohnung kommt und sich schließlich auf dem Sessel des Vaters Platz nimmt. Wie wenn jetzt wieder alles von vorne beginnen wird in der nächsten Generation?

Haneke in einem Interview vom 20. September 2012: Die dramatische Kunst lebt vom Konflikt. Das nehme ich wirklich ernst. Sonst plätschern die Filme nur vorbei. Das kann mir zwar zwei angenehme Stunden bereiten, aber ich selbst will immer Filme sehen oder Bücher lesen, die mich ein bisschen verunsichern, weil mich nur diese weiterbringen. Wenn sie nur bestätigen, was ich schon weiß, hätte ich sie nicht sehen oder lesen müssen.“

Einige Gedanken zu “Liebe

  1. Ulrich Bill

    Habe am Sonntag diesen wunderbaren Film gesehen. Bin kein gläubiger Christ, aber die paar biblisch-religiösen Anspielungen scheinen mir doch bewußt komponiert. Da ertönt auf einmal unvermittelt Bachs Choralvorspiel „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ und dann kommen die Tauben-Szenen, die Sie wohl richtigerweise mit 1.Mose, Kap.8 verknüpfen. Wer denkt dabei nicht auch an das Rezitativ „Am Abend als es kühle war“ aus der Matth.Passion: Kommt über diese Zitate nicht versteckt der versöhnende Friedensschluss am furchtbaren Ende eines erfüllten Lebens?

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