Bin jip
Kim Ki-Duk (2004): „Bin-Jip“
Inhalt des Films:
Der Protagonist Tae-suk lässt sich auf seinem Motorrad durch die Stadt treiben. Er bricht per Lockpicking in verschiedene Wohnungen ein, deren Eigentümer vorübergehend verreist sind. Als Indikator benutzt er Pizzaflyer: Sind sie lange nach dem Anbringen noch unangetastet, ist er sicher, dass keiner zu Hause ist. Dann lässt er sich dort nieder, isst, schläft und geht wieder, allerdings nicht ohne vorher die Kleider des Besitzers gewaschen, die Wohnung geputzt und defektes Equipment repariert zu haben. Der Sonderling stiehlt nie etwas, sondern verschwindet stets nach einigen Tagen wieder unbemerkt. Doch eines Tages bricht er in das Haus des Models Sun-hwa ein, die mit einem reichen Geschäftsmann verheiratet und Opfer von häuslicher Gewalt ist. Zunächst versteckt sie sich vor ihm, aber als ihr Mann kommt und die beiden überrascht, flieht sie mit Tae-suk und folgt ihm bei seiner Reise durch die Stadt, die kein wirkliches Ziel zu haben scheint.
So leben beide in stillem Einverständnis miteinander, aus dem sich eine innige Zuneigung entwickelt. Sun-hwa begleitet Tae-suk fortan und dringt zusammen mit ihm in Häuser und Wohnungen ein. Eines Tages jedoch betreten sie eine Wohnung, in der sie einen toten alten Mann auffinden. Anschließend beerdigen Tae-suk und Sun-hwa diesen in respektvoller Weise. Doch als der Sohn des Verstorbenen mit seiner Frau in die Wohnung kommt und die beiden Eindringlinge entdeckt, ruft er die Polizei. Tae-suk wird als vermeintlicher Mörder festgenommen. Während der Vernehmungen spricht Tae-suk weiterhin kein Wort, was den zuständigen Kommissar in Rage versetzt. Um ihn zum Reden zu bringen, verprügelt er Tae-suk. Es stellt sich rasch heraus, dass der alte Mann nicht ermordet wurde, sondern an Lungenkrebs starb. Tae-suk wird dennoch angeklagt, wegen der Entführung von Sun-hwa – ihr gewalttätiger Ehemann hatte sie als vermisst gemeldet –, sowie wegen Einbruchs und der unsachgemäßen Beseitigung einer Leiche.
Sun-hwa muss zu ihrem Ehemann zurückkehren. Tae-suks Verhalten im Gefängnis ist eigenartig: Er lernt, sich im Schatten des Wärters zu bewegen, immer hinter ihm zu sein, so dass dieser ihn nicht sehen kann. Weil die Wärter ihn deswegen nicht mehr kontrollieren können, wird Tae-suk aus dem Gefängnis entlassen. Zunächst stattet er allen Häusern und Wohnungen, die er zusammen mit Sun-hwa bereist hat, einen Besuch ab, wobei er weiterhin diese Technik anwendet und so quasi unbemerkt von den dort anwesenden Personen verweilt. Im Grunde ist er wirklich unsichtbar geworden, man spürt ihn, kann ihn aber nicht mehr sehen.
Schließlich kehrt er zu Sun-hwas Haus zurück. Ihr Ehemann ist über ihre plötzliche Fröhlichkeit verwundert. Er ahnt nicht, das Tae-suk dieselbe „Unsichtbarkeit“ in seinem Haus anwendet und nur von Sun-hwa gesehen werden kann, die nun, in ihrer aufrichtigen Liebe zu Tae-suk, wieder aufblüht.
Der Film endet mit der Schrifttafel: „Es ist schwer zu sagen, ob die Welt, in der wir leben, die Realität ist oder ein Traum.“ (aus Wikipedia)
Psychoanalytische Filmbetrachtung
im CinéMayence
Prolog
Nach solchen Filmen geht es mir häufig wie nach einem Traum aus dem man aufwacht. Das Anschalten der Beleuchtung holt einen zurück in die Realität und man nimmt plötzlich die Menschen um sich herum wieder genauer wahr. Und manchmal möchte man am liebsten weiterträumen und nicht unbedingt darüber reden, es vielleicht zerreden.
So meinte auch mein ältester Sohn nach diesem Film als ersten Kommentar, dass man am besten nicht darüber reden sollte, es sei alles gesagt. Stimme ich zu, möchte und bin jetzt hier allerdings aufgefordert diese Stille, die Sprachlosigkeit und vielleicht auch beginnende Müdigkeit nach einem langen Arbeitstag zu überwinden, zu durchbrechen und versuche damit genau besehen etwas, was letztlich auch in unserer psychoanalytischen Praxis immer wieder Thema ist und sein sollte. In dem Film BinJip haben Worte, hat Sprache nur wenig Bedeutung. Der männliche Protagonist spricht nicht ein einziges Wort auch wenn er furchtbar verprügelt und misshandelt wird, Die weibliche Protagonistin spricht zwei Sätze: „Das Essen ist fertig“ und „ich liebe Dich“. Und derjenige, an den die Worte gerichtet sind, ist noch nicht einmal gemeint, und ahnt es noch nicht einmal.
Nun tun sich Analytiker manchmal schwer, wenn es um das Handeln geht. Sie haben es ja eher mit der Sprache. Denn mit Paula Heimann stellen wir uns die Frage wenn ein Pat. zu uns kommt: wer spricht hier eigentlich, zu wem spricht er letztlich und worüber spricht er, d.h. gibt es einen Subtext und warum spricht er gerade jetzt darüber. Tja, und wenn beide Protagonisten im Film fast überhaupt nicht sprechen, was dann.
Freud hatte bei seiner talking cure anfangs erwartet, dass wenn die Pat. auf der Couch liegen und anfangen, aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, dass sie sich dann einfach an das Verdrängte erinnern. Er musste aber feststellen, dass sie teilweise gar nicht viel erzählen. Vielmehr kam er zu den Schluss: „Der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt“ und weiter: „man versteht endlich, dies (nämlich die Handlung, die Tat) ist seine Art zu erinnern“.
Verstehen wir also die Handlung der Akteure im Film als ihre Form des sprachlosen Erinnerns.
eigene Faszination:
Das, was mich an dem Film am meisten fasziniert hat, sind die unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Versatzstücke, die symbolisch hoch aufgeladen erscheinen, die aber neben dem vordergründigen bei genauerem Hinsehen kein einheitliches Bild ergeben (man denke nur an das Plakat der weiblichen Protagonistin, das sie zerschneidet und als patchwork zusammensetzt). Auf den ersten Blick erscheint der Film wie eine schöne und auch tragisch verlaufende Liebesgeschichte. Nur was ist das für eine Liebe zwischen den Beiden.?
In der Vorbereitung des heutigen Abends bemerkte ich im Verlauf auch immer wieder Momente, in denen ich nach der anfänglichen Faszination beim Reflektieren über diesen Film auch Gefühle einer großen Einsamkeit und dann auch Leere bekam, als ob der Film durch seine sprachlosen Bilder sich in eigene tiefere unbewusste Schichten einnistet. Es schien so, wie wenn der Film heimlich in einen eindringt, gleichermaßen wie der männliche Protagonist sich unmerklich Zutritt in die leeren Häuser und Wohnungen verschafft. Sozusagen als Gegenbewegung merkte ich zunehmend auch Unmut, einen Widerstand und Hemmung, die Dinge und Vorstellungen in Worte zu fassen, sozusagen das zu mentalisieren, was hier nur in Bilder und Stimmungen auftaucht. Mir schien es manchmal so, wie wenn ich mich hierzu zwingen musste, das Unausgesprochene in Sprache zu fassen. Sprache schien auf einmal hierfür ein völlig unzureichendes Medium, das zu kommunizieren, was der Film ausdrückt.
Was Sie also jetzt nicht von mir erwarten dürfen ist eine umfassende gesättigte Deutung nach dem Muster: für Psychoanalytiker steht BinJip für…..
Vielmehr werde ich verschiedene Aspekte des Filmes herausgreifen und auf ihren Aussagegehalt prüfen, Erklärungen und Deutungen versuchen, die sich nicht nur ergänzen, sondern durchaus widersprechen können. Da es bei diesem Film um Räume geht wäre mein Ziel mit meinen Überlegungen im hier und jetzt, den Raum des Denkens, Reflektierens und Phantasierens über diesen Film hoffentlich durch eine vielleicht andere Sichtweise etwas zu vergrößern. D.h. fühlen sie sich hiermit auch sehr aufgefordert, durchaus gegensätzliche Deutungen und Interpretationen später zu ergänzen, es würde mich sehr freuen.
Leere Häuser, leere Menschen, leere Räume
BinJip heißt übersetzt, leere Häuser. Aber eigentlich geht es nicht nur um verlassene Häuser und Wohnungen, sondern es geht um die Leere in den Menschen, und eine Leere, die nicht entstanden ist, sondern vermutlich schon immer vorhanden war und durch vielfältigste Mechanismen kompensiert werden musste. Der männliche Protagonist dringt in diese leere Häuser ein und versucht in der Abwesenheit der Bewohner sozusagen heimlich für einen kurzen Augenblick in deren Leben einzutauchen, wird virtuell zum Mitglied dieser jeweiligen Familien, zieht freudig lächelnd in das Kinderzimmer ein, benutzt die Zahnbürste und wäscht sich wie ein nach Hause kommender Junge in der Dusche. Er zappt sich bequem machend auf der Couch durch die Programme, wie wenn er dort immer schon heimisch gewesen wäre. Zum Ausgleich wäscht er liegengebliebene Wäsche, putzt Schuhe und verlässt die Wohnung, wie wenn er nie dagewesen wäre, sozusagen ein guter Geist. Anfangs hält man noch Distanz, ist noch irritiert davon, dass da jemand grenzüberschreitend in die Intimsphäre Anderer schamlos eindringt und erwartet ständig, dass er ertappt wird. Aber wie sagt der Polizist nach der Festnahme: „Ich habe das Gefühl, dass er eigentlich gar kein schlechter Mensch ist“ Er repariert eine Spielzeugpistole, eine Uhr, einen CD-Player, eine Waage usw. Er will doch nur Gutes. Und wer wünscht sich nicht einen guten Geist, der einfach mal ganz schnell die Dinge macht, zu denen man nicht kommt oder zu denen man einfach keine Lust hat. Wir schlagen uns zunehmend auf seine Seite und beginnen die Grenzüberschreitung zu verzeihen, vielleicht auch, weil wir über ihn unsere eigene Neugier befriedigen können, wie Andere so leben. Denn das, was wir befürchten, nämlich das jemand in unserer Abwesenheit in unsere Wohnung eindringt, Sachen durchwühlt, intime Briefe liest usw. könnte zu einem Teil ja durchaus auch auf einen solchen uns selbst nicht eingestanden Wunsch hindeuten, nämlich mal heimlich zu schauen und zu entdecken, wie andere so leben, sozusagen unter einer Tarnkappe. Und der männliche Protagonist ermöglicht uns stellvertretend die Dinge durch ihn zu betrachten ohne direkt beteiligt zu sein: er nimmt uns sozusagen mit, und erfüllt uns vielleicht ein Stück weit einen voyeuristischen einen Wunsch, den wir uns vielleicht nicht ganz eingestehen können.
Aber auf einer anderen Ebene versucht er den abwesenden Wohnungsbesitzer das zu geben, was er sich selbst sehnlichst wünscht: das da jemand kommt, der hilft, sein Innerstes in Ordnung zu bringen, der ihm Familie, Halt, Struktur, Bedeutung und Sinnhaftigkeit gibt. Und von diesem Zwang zum Reparieren kann er auch dann nicht ablassen, als in der letzten Wohnung, in der sie den toten Mann finden klar ist, dass sie gleich entdeckt werden. Mich hat dies an die Kindergeschichte von Christine Nöstlinger: Zwerg im Kopf erinnert, in dem ein daumenfingergroßer Zwerg am ersten Schultag von Anna in den Kopf hineinkrabbelt und ihr, die unter der Scheidung der Eltern leidet hilft, d.h. für sie da ist, mit ihr spricht und sich über die innere Unordnung in Annas Kopf mokiert, aber zum ständigen Begleiter wird.
Als der Boxer auf ihn einprügelt fragt er: „Was habt ihr hier zu suchen, wenn ihr nichts stehlen wollt“. Aber er will nichts stehlen, sondern er sucht ein inneres Objekt, das zur Kristallisation und zum Aufbau eines Selbst führen kann. Er verschmilzt ganz mit der jeweiligen Umgebung, versucht diese aufzusaugen: er wird zum Golfspieler, zum Whisky trinkenden Boxer mit seiner Gefährtin, zelebriert mit ihr gemeinsam eine Teezeremonie, aber vergeblich.
D.h. er gebiert sich in den jeweiligen Wohnung so wie er denkt, dass sich die dortigen Akteure verhalten: er versucht diese zu kopieren, lässt sich als Boxer vor dem Plakat des Boxers fotografieren in der Hoffnung, die Identität der Anderen in sich aufnehmen, zumindest irgendwie festhalten zu können. Diese hilflosen Versuche entsprechen letztlich der Flüchtigkeit der Bits und Bytes der angefertigten Digitalfotos; eine falsche Taste und die Bilder sind weg ohne Rückstände, wie wenn es sie nie gegeben hätte.
Bedeutsam sind allenfalls die Oberflächen, die Hüllen, weil die äußeren wie die inneren Räume bedeutungsleer sind oder geworden sind: es werden wunderschöne Bilder der weiblichen Protagonistin gezeigt, eindrucksvolle Wohnungen und Häuser, ein Golf équipement, ein ausgesprochen teures Auto und ebensolches Motorrad.
Es erinnert damit an einen Werbespot der Sparkassen: mein Haus, mein Auto, mein Boot. Aber alles dies sind Prothesen, eine Ablenkung, ein Antidepressivum, um die innere Leere einigermaßen erträglich zu halten.
Freud schrieb hierzu zum Unbehagen in der Kultur: „Mit all seinen Werkzeugen vervollkommt der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen –oder träumt die Schranken für ihre Leistungen weg. (…) Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt. (…) (Aber) wir (wollen) (..) auch nicht daran vergessen , dass der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt“.
Die Innen- und Hauptstädte der Kontinente gleichen sich: in Fußgängerzonen kann man sich an Zara, H&M; Fastfood-Ketten usw. orientieren. Alles wirkt uniformistisch in einer globalisierten Welt, in der man sich zwar mit Navigationsgeräten überall zu Recht finden kann, aber nur wenig Neues und Unbekanntes entdecken wird.
Aber der Mensch als Prothesengott scheint sein Streben ähnlich der biblischen Erzählung des Turmbaus zu Babel mit einer Sprachverwirrung bezahlen zu müssen. Es gibt keine Sprache als verlässliche Möglichkeit der Verständigung.
Auf die Frage eines Interviewers an den Regisseur, warum seine Akteure so wenig sagen antwortete er: „mit der Sprache können wir nicht alles ausdrücken, sie ist voller Lügen. Sie kann nichts Genaues sagen. Das Schweigen besagt, dass es keine Sprache gibt, sondern Wichtiges sich im Handeln ausdrückt.“
D.h. wenn die weibliche Protagonistin am Ende sagt, ich liebe Dich, sieht sich der Ehemann endlich am Ende seiner Wunschträume angelangt. Aber er irrt schwerwiegend, denn er ist nicht gemeint, sondern gemeint ist der sich versteckende männliche Protagonist oder aber eben die virtuelle, träumerische Vorstellung von einem Menschen. Zuletzt bleibt nur die Flucht in eine innere, eine dissoziierte Welt, in der man sich in der Phantasie die Dinge so zusammenstellen kann, wie man es möchte, über alles Kontrolle hat, was die Wirklichkeit nicht ermöglicht. Es bleibt die Zuflucht zu alten Ritualen: das Waschen der Wäsche mit der Hand, die Teezeremonie in einer museal anmutenden Umgebung des alten Korea oder aber das Beerdigungsritual des alten Mannes, der „von ihm besser beerdigt (wurde), als der eigene Sohn es hätte tun können“.
Einige der im Film vorkommenden Insignien der Konsumgesellschaft stehen genau besehen für das Erkunden weiter Räume: mit dem vollverkleideten schweren Motorrad wie mit der großen Limousine möchte man am liebsten verreisen, weite Strecken zurücklegen, die Welt erkunden und sich weniger durch enge und verstopfte Straßen schlängeln. Beim Golfspielen sucht man die Weite und den Geruch der Landschaft, in dem man dem geschlagenen Ball hinterherläuft. Aber vielleicht können erst die äußeren Räume erkundet werden, wenn die inneren Räume nicht mehr leer sind. So muss man mit dem Auto und Motorrad in der Sicherheit der engen Straßen und mit dem Golfspiel im eigenen Garten oder an einen um einem Baum befestigten Golfball verhaftet bleiben.
Wie sind die anderen Beziehungen im Film gestaltet:
Der Ehemann der Protagonistin muss die Frau vollständig besitzen und kontrollieren, zugleich ist aber ihre Resonanz, ihre Antwort, Zugewandtheit und direkte Rückspiegelung für seine Selbstwertstabilisierung unabdingbar. Hierdurch scheint er zugleich im höchsten Maße von ihr abhängig, ist ihr hörig. Diese Beziehung steht für einen ausgesprochen sadomasochistischen Interaktionsmodus, in dem Täter-Opfer-Zuschreibungen vordergründig eindeutig verteilt scheinen, sich aber genau besehen ständig im Fluss befinden. Denn wer ist wirklich nur Täter und nur Opfer. Erst gegen Ende des Films bricht die weibliche Protagonistin aus ihrem masochistischen Muster aus, in dem sie ihrem Ehemann eine Ohrfeige gibt.
Die anderen in ihre Wohnungen zurückkehrenden Paare oder Familien streiten sich teilweise heftig und zerbrechen damit das fiktive Idealbild einer überaus glücklichen Familie, das diese durch ihre Bilder an den Wänden und Fotoalben vermittelt haben. Auch der adrett gekleidete Sohn des an Lungenkrebs verstorbenen Vaters, lässt diesen in einer offenbar heruntergekommenen Wohnung und Umgebung leben, kümmert sich mehr um sein Fortkommen und Urlaub und entlastet sich von seinen Schuldgefühle, den Vater mit seiner schweren Krankheit vernachlässigt zu haben dadurch, in dem er in den eindringenden Protagonisten Schuldige gefunden hatte.
Eine gewisse Ausnahme stellt das Paar in der vorletzten Wohnung, (der musealen Umgebung) dar. Sie werden für die weibliche Protagonistin für eine kurze Zeit zum guten Elternpaar, die sie bei sich ausschlafen lassen– ohne sie zu kennen – einfach nur da sind und einen behüteten Raum zur Verfügung stellen. Sie ermöglichen ihr damit im Gegensatz zu ihrem Ehemann ein Schritt in Richtung größerer Selbstregulation, als der Fähigkeit allein und für sich sein zu können, in der Anwesenheit Anderer, ein Aspekt, der sehr an Winnicott denken lässt. Hierdurch kann sie vielleicht zum Teil das, was vielleicht noch fragmentiert ist oder wieder geworden ist, zu einem einheitlichen und sozusagen authentischen Bild zusammensetzen (man denke an das Foto von sich, das sie zerstückelte und zu einem Patchworkbild zusammenklebte)
Auch die Opfer werden zu Tätern und tragen Schuld
Was wir dem männlichen Protagonisten anfangs noch verzeihen können, ist sein Eindringen in fremde Wohnungen. Er ist ja ein guter Mensch, er will ja nichts stehlen, sondern nur helfen. So befreit er eine misshandelte Frau von ihrem Peiniger. Er repariert Dinge, beerdigt Verstorbene usw. Leicht übersehen wir, dass er zwar anfangs für einen nicht begangenen Mord verantwortlich gemacht wurde, allerdings für die tatsächliche schwere Körperverletzung möglicherweise mit Todesfolge nicht bestraft wird. Diese Tat gerät nahezu in Vergessenheit.
Denken wir an die erste Wohnung. Die vom männlichen Protagonisten reparierte Pistole richtet der Junge auf die Mutter und drückt ab in der falschen Gewissheit, dass diese nicht funktioniert. Aber der gute Geist hat sie repariert und sorgt damit dafür, dass der Junge damit die Mutter verletzen wird. Der Gute wird damit auch zum Täter und trägt Schuld, wie in gewisser Weise auch die weibliche Protagonistin, die sich lange ihrer masochistischen Haltung überlassen hatte und damit mitverantwortlich ist. Täter werden zu Opfer und Opfer zu Tätern. Am Ende ist genau betrachtet kaum einer der Akteure schuldlos, so auch nicht der korrupte Polizist, mit dessen Bestrafung wir uns solidarisieren.
Die Angst vor einer wirklichen Begegnung, vor Kontakt
Der männliche Protagonist muss erst einmal erschreckt flüchten, als er beim Masturbieren nicht mit seiner phantasierten Onanievorlage alleine bleibt, sondern eine reale, wahrhaftige und schöne Frau zu ihm ans Bett tritt, keine Angst ausstrahlt, sondern neugierig auf ihn ist, zumal sie ihn zuvor aus sicherer Entfernung beobachtend kennenlernen konnte.
In der nächsten Szene sieht man ihn als lonesome rider neben seinem Gefährt bezeichnenderweise vor einem Tunnel sitzen, aus dem kurz zuvor ein anderer Motorradfahrer seiner Spur gefolgt war.
Die Rückkehr in den Tunnel erscheint fast die Rückkehr in einen Urzustand, vielleicht könnte man sagen in einen Uterus, die zugleich sein Gefangensein darstellen wird. Mit der Entscheidung zurückzukehren beginnt eine tragische Entwicklung. Beide verlieren in der Bezogenheit aufeinander – vielleicht auch in ihrer Verschmelzung – die Vorsicht, er wird schwer geschlagen und schließlich werden sie entdeckt. Die Annäherung beider hat etwas überaus Vorsichtiges und die wechselseitige Verletzung achtend. Beide erscheinen weniger wie ein Liebespaar, als vielmehr wie zwei Geschwister, die sich in der Not wie Harlowsche Rhesusäffchen aneinander schmiegen. (Harlow hat in experimentellen Versuchen zum Bindungsverhalten Rhesusaffen untersucht, die ohne Mutter aufgezogen wurden).
Die vorsichtige Annäherung beider findet spielerisch mittels des Golfballes statt, der später zur verletzenden Waffe, möglicherweise auch zur tödlichen Waffe wurde. Ein direkter unmittelbarer Kontakt ist (noch) nicht möglich.
Nachdem er vom Boxer verprügelt wurde, füttert sie ihn mit einer Nudelsuppe, wie eine Mutter. Was in dieser Szene noch fehlt ist die synchrone Mundbewegung der Mutter, die dem Kind das Öffnen des Mundes vormacht. Auch tröstet sie ihn in seinem körperlichen und seelischen Schmerz.
Er seinerseits legte ihr bei der Rückkehr ein Kleid samt Unterhose und BH nach dem Baden heraus, ebenfalls wie eine Mutter ihrer kleinen Tochter. Später bereitete er ihr, die vermutlich (man denke an die verstellte Waage) unter einer Essstörung litt, ein opulentes Mahl. Sie geben sich einander die versorgenden und fürsorglichen Eltern.
Sehr hatte mich der an einen Baum befestigte Golfball beschäftigt, in dessen virtuelle Flugbahn sich die weibliche Protagonistin immer wieder stellte und er dann sein Schlagen unterbricht. Es kommt zum tragischen Unglück, als sie diese gemeinsame Choreographie unterbricht, sich nicht mehr in die Flugbahn stellt und daraufhin eine unbeteiligte Frau in einem vorbeifahrenden Auto möglicherweise tödlich verletzt wird.
Der Film beginnt, wenn Sie sich erinnern, mit Golfschlägen in ein Netz, die sich fast anhören, wie Peitschenschläge. Das Netz schützt eine weibliche anmutige Skulptur vor diesen geschlagenen Golfbällen. Der Kontakt mit Anderen steht für Unvereinbarkeit, Verletzungen, Kränkungen und Enttäuschungen. Hier entsteht Wut und Hass, die irgendwie verdaut, vielleicht aufgefangen, abgebremst, oder aber externalisiert werden muss.
Indem sich die weibliche Protagonistin in die Flugbahn stellt, signalisiert sie ihre Bereitschaft, seine Wut und seinen Hass in sich aufzunehmen, zu containen, wie es Bion beschreibt. Sie bietet ihm durch eine symbolische Haltung an – ähnlich einer Mutter – gegenüber dem Säugling, solche unverarbeitete, unkontrollierbare und unverdauliche Elemente (Bion nennt dies beta-Elemente) in sich aufzunehmen, zu transformieren und ihnen Bedeutung zu geben. Hinreichend gute Mütter empfinden und transformieren diese Gefühle so, dass sie für den Säugling erträglich werden. Zudem kombinieren sie die Spiegelung unerträglicher Affekte mit emotionalen Signalen und zeigen auf diese Weise an, dass der Affekt unter Kontrolle ist, dass alles gut ist und wird. (was Bion als alpha-Funktion bezeichnet).
Aber in dem sie sich nicht wie zuvor in die geänderte Flugbahn stellt, nimmt die Tragik ihren Lauf. Er hat seine Wut und seinen Hass auch nach der Verletzung durch den Boxer externalisiert, auf eine Unbekannte projiziert und entladen. Damit hat er sein unmittelbares Gegenüber hiervon bewahren können und verbleibt als der scheinbar Gute.
Die Tragik liegt in dem gravierenden Missverständnis und seinem Versuch, sich der vermeintlichen Aufforderung der weiblichen Protagonistin: „schlage mich mit dem Ball“ zu widersetzen, um ja nicht an die Stelle des Ehemanns zu treten und die sadomasochistische Beziehung fortzusetzen. Aber genau durch dieses Bemühen wird er zum Aggressor und verletzt „unwissend“ eine Unbeteiligte schwer, möglicherweise tödlich.
Eigene und fremde Verletzungen und Wunden sowie unverdaulicher Hass und Wut führen dazu, dass es kein ICH und DU geben kann und darf. Zuflucht findet man in einer Verschmelzung und im Einswerden. So findet die weibliche Protagonistin ihn in ihrem eigenen Schatten. Beide sieht man am Ende des Films auf der Waage und zusammen ergeben sie 0 kg, d.h. sie sind in ihrer Vereinigung für nichts und niemanden sichtbar, ein Nichts! Damit können sie auch nicht verletzt werden.
Einssein, Zweisam- und Dreisamkeit
Während am Anfang des Films der männliche Protagonist noch sichtbar aber quasi unbemerkt in fremde Häuser eindrang, nutzt er den Gefängnisaufenthalt dazu, unsichtbar in der Anwesenheit Anderer zu werden. Jetzt kann er endlich frei agieren und ähnlich wie die weibliche Protagonistin alte Orte aufsuchen. (d.h. wenn er auch auf seinen Schatten achtet, für dessen Vernachlässigung er im Gefängnis noch furchtbare Prügel bezog).
Aber warum finden beide denn jetzt, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen ist, nicht zusammen, ziehen von dannen und leben ein Leben der Zweisamkeit?
Die englische Fassung dieses Films heißt: 3-iron, zu Deutsch 3er Eisen und beschreibt einen 3er Golfschläger, der – ich habe nachgelesen – im Golf für mittlere Entfernungen von 150-250m vorgesehen sein soll.
Beide können die Zweisamkeit nicht oder noch nicht leben, sie benötigen eine Triangulierung, einen Dritten im Bunde, der in der Kussszene tatsächlich zwischen ihnen steht und letztlich das Böse, Schlagende symbolisiert. Sie einigen sich darauf, ihn zu hintergehen, in ihm das böse Element zu sehen, um damit eben auch ihre Zweisamkeit von solchen Aspekten, Impulsen und Affekten freihalten zu können, in dem sie gemeinsam jetzt einen Container für diese Elemente gefunden haben, sie dort entsorgen können. Aber in dieser Konstellation kann es letztlich keine weitere Entwicklung hin zur Selbstregulation geben, weil sie hierüber nicht lernen werden, die eigenen negativen Affekte die auch mit ihrem Gegenüber zusammenhängen zu mentalisieren, zu verstoffwechseln. Sondern diese Affekte werden bei Fehlen eines zurückspiegelnden Containers immer wieder auch die Quelle der Desorganisation und der pathogenen Ausscheidung sein müssen.
Fazit:
Korea steht für ein geschundenes Land, ein Land in dem immer noch der kalte Krieg herrscht, der uns im letzten Jahrhundert beinahe an den Rand eines dritten Weltkrieges gebracht hätte. Ein immer noch geteiltes Land, in dem auf der einen Seite Armut und Mangel regiert und auf der anderen Seite den Insignien der Wohlstandsgesellschaft gehuldigt wird. Ein Land, das von Mongolen lange beherrscht, dann zum tributpflichtiger Vasallen-Staat und Protektorat Chinas, schließlich japanische Provinz und nach 1945 am 38 Breitengrad willkürlich geteilt wurde. Vielleicht steht die Geschichte dieses Landes und die Befindlichkeiten der Akteure dieses Films auch für die Zerrissen- und Orientierungslosigkeit des heutigen Menschen in einer Konsumgesellschaft und deren Flucht in einen Prothesengott oder aber in eine dissoziierte und virtuelle Welt, ähnlich dem Höhlengleichnis Platons. Nur mit dem Unterschied, dass wir nicht von Kindheit an in der Höhle festgebunden sind. Zudem scheinen wir auch selbst dafür zu sorgen, welche Gegenstände hinter uns vorbeigetragen werden, die dann das Licht auf die Höhlenrückwand werfen. Es ist eine Flucht in eine innere unwirkliche Welt mit Bildern und ohne Sprache. Der Film spricht eine Sehnsucht nach dem Verschmelzen, vielleicht auch ozeanisches Gefühl an und berührt damit tiefe Sehnsüchte in uns, eins zu werden mit dem Gegenüber, in dem nicht die unvollkommene Sprache der Garant für ständige Missverständnisse sein muss. Man ist eins, denkt sowieso das gleiche usw. Nur so ist Welt und Liebe schön. Es mutet an wie die Sehnsucht nach einem pränatalen Zustand, die als das ungedachte Bekannte gewusst wird, aber eben (noch) nicht gedacht werden darf (was Bollas beschreibt). Es in Sprache zu fassen würde der erste Schritt bedeuten, sich schmerzlich von dieser vielleicht unstillbaren Sehnsucht zu einem großen Teil zu verabschieden. Oder aber wir entscheiden uns dafür, die immer wieder auch enttäuschende und schmerzliche Wirklichkeit auf dem Altar der Illusionen zu opfern.